6
Jan
2015

monsieur accident

Nun sitze ich also hier. Es ist ein Dienstagabend im grau geflockten Januar. Für heute habe ich getan, was ich tun konnte, um dem Tag genau die Bedeutung zu geben, die wirklich jedem Tag gebührt. Das Jahr ist jung und ebenso die Pläne für selbiges. Und schon klopft es an der Tür. Es ist der Zufall, dieses windige Bürschchen, das mich fragt, ob ich dieses Jahr nicht auch ganz ihm - dem Zufall - überlassen möchte.

Hat er mich nun doch wieder gefunden, der werte Monsieur Accident. Und wieder überlege ich: Gibt es einen geheimen Plan, von dem ich nichts weiss?

Wir sind uns schon sehr oft begegnet und ich denke seit langer Zeit über ihn nach. Und wenn ich ihn vergesse, dann kreuzt er meinen Weg so plötzlich wie ein Funkenflug.

Der Zufall - er ist die Kreuzung, an der voneinander unabhängige Kausalketten mit Karacho ineinander rauschen oder leise aneinander vorbeiziehen, ohne sich je zu berühren. Wir neigen dazu, seinem Auftauchen immer wieder eine viel tiefere Bedeutung beizumessen, als ihm zusteht. Dann nämlich, wenn wir ihn für Schicksal halten. Oder ihn mit Karma verwechseln.

Zugegeben; jedesmal, wenn er mich trifft, komme ich nicht umhin zu fragen: Kann denn der liebe Monsieur nicht doch ein märchenhaftes Blinzeln sein, das nur mir gilt? Ist er der Typ, der meine Schlüssel verlegt, damit ich das Taxi zum Flieger verpasse, das Stunden später vom Radar verschwindet? Und ist er aber auch der gehässige alte Mann, der mich genau an dem Tag verpfeift, wo ich aus Verlegenheit gelogen habe?

Der Zufall bindet viel, er bindet Hoffnung, Glück, Verzweiflung und Pech. Die Hoffnung, dass kluge Entscheidungen zu einem erfüllten Leben führen. Und die Verzweiflung, wenn dies trotz aller Vorsicht nicht gelingt. Manchmal ist er hoch willkommen - beim besten Blatt auf der Hand, beim Sechser im Lotto und wenn wir unsere erste, unvergessene Liebe beim Speed-Dating wiederfinden. Und dann gibt es die Art von Zufällen, da möchte man schier ausrasten, so offensichtlich mangelhaft wurde unser persönlicher Lebens-Algorithmus programmiert.

Selbst Freunde finden ist - wie die Liebe - oft nur eine Frage der zufälligen und günstigen Gelegenheit. Natürlich muss man die entscheidenden Schritte der Kontaktaufnahme und -pflege selbst tun. Aber meist ist es zunächst der Zufall, der uns mit ein paar Personen zur selben Zeit am selben Ort vereint. Da muss man schon ein wenig Glück haben, dass da auch gleich etwas Brauchbares dabei ist. Und auch nach näherer Beschau brauchbar bleibt!

Die meisten Zufälle, so lehrt zumindest das Gros der Wissenschaft, sind prinzipiell vorhersagbar. Uns fehlen nur wichtige Informationen, um sie tatsächlich zu ergründen. Nicht umsonst zählen einige ambitionierte Geister in Casinos weiter Karten oder leben in einem derart routinierten Raster, dass sie zumindest ihre eigene Unwissenheit, was den eigenen Tag betrifft, komplett ausschließen können. Bloss nichts dem Zufall überlassen! Und trotzdem hängt das Ergebnis unserer Entscheidungen tagtäglich sehr von eben diesem ab. Sonst könnten wir den freien Willen nicht wirklich als solchen bezeichnen. Wenn wir uns fragen, was uns da und da bloss wieder geritten hat, dann war es Monsignore Coinzidenza, der unserem Willen die Freiheit garantierte, sich mal nach Lust und Laune auszutoben.

Zufall, ich umarme Dich. Komm her, und überrasche mich. Kreuz die Klinge und ich biete Dir - das verspreche ich - die Stirn!
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