15
Dez
2014

last minute something

,Morgen, morgen, nur nicht heute! Sprechen immer träge Leute‘. So schrieb es Christian Felix Weiße 1766 in seinen ,Lieder für Kinder‘.

Meine Oma wusste es dann später auch immer wieder in großmütterlicher Zeigefinger-Manier anzumerken: ,Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.‘ Eine Weile habe ich mich diesem Diktat noch in Ehrfurcht vor ihrem vermeintlichen Allwissen gefügt. Aber spätestens mit Erhalt meiner Eintrittskarte in die trotzerfüllten, wankelmütigen Teenager-Jahre war es vorbei mit dem Erledigungs-Gehorsam.

Inzwischen hat sich Trotz und Wankelmut in sozialverträglichem Rahmen wieder eingependelt. Doch es scheint, als würde in mir immer noch ein gewisses Rädchen aus der Reihe der Prioritäten tanzen. Dabei richtet sich mein Widerwillen vor allem gegen die Erledigung von den von mir als überflüssig, langweilig oder unangenehm eingestuften Aufgaben. Doch damit bin ich nicht allein. Die weit verbreitete Verweigerung zur leidigen, aber notwendigen Aufgabenerfüllung hat sogar einen wissenschaftlichen Namen. Es wurde viel darüber geschrieben und das Wort stammt aus der gleichen, hässlichen Lautfamilie wie Protokoll oder Prostatakrebs.

Erledigungsblockade, Handlungsaufschub oder Bummelei werden unter dem Dach Prokrastination zusammengefasst. Manche sind so schwer davon betroffen, dass die eigene Motivation noch nicht mal für den Gang zur Post, einen Rückruf oder das Bezahlen einer Rechnung reicht.

Die dahinter liegenden Gründe sind mannigfaltig. Von den armen Geistern, die schwere Depressionen heimsuchen, einmal abgesehen, sind es meist Langeweile, diverse Ängste oder ein übersteigerter Drang nach Perfektion, die ein Handeln scheinbar unmöglich machen. Ein todsicheres Rezept für ein schlechtes Gewissen.

Daraus speist sich eine unübersichtliche Flut aus Last-Minute-Aktivitäten, in denen man selbst und meist auch der ein oder andere Wegbegleiter als Mitleidender unterzugehen droht. Es könnte alles so einfach sein - ist es aber nicht.

Gerade jetzt, in der Vorweihnachtszeit, lauern die Gefahren für uns Bummler an jeder Ecke. Adventskalender, Geschenke, Weihnachtsfeier-Planungen, die nervtötende Sylvester-Frage. Man möchte sich eigentlich jeden Tag vor lauter Scham am Glühweinstand ertränken, so wenig hat man bis jetzt erst von seiner Liste streichen können.

Mit Blick auf das große Ganze, nämlich das Leben selbst, muss man sich dann aber schon entscheiden, ob man die Dinge nun anpackt oder nicht. Gute Vorsätze erfüllen sich genau so wenig von alleine wie ein Kinderwunsch, den man nun seit Jahren hin- und herschiebt. Ein klärendes Gespräch wird sich im Inhalt mehr und mehr verklären, je länger man darauf wartet, dass ,die Gelegenheit‘ nun günstig ist. Der richtige Moment kommt vielleicht nie, die richtige Stimmung vielleicht auch nicht. Dann kann man es genau so gut auch lustlos, zweifelnd oder furchtsam beginnen, was immer es auch ist - vielleicht zeigt sich die Erleuchtung, die Lust, der Mut ja auch im Tun!


'Jeder Tag hat seine Pflicht! 

Was geschehn ist, ist geschehen,

dies nur kann ich übersehen;

was geschehn kann, weiß ich nicht.

Wer nicht vorgeht, geht zurück,

unsre schnellen Augenblicke

gehn vor sich, nie hinter sich.

Das ist mein, was ich besitze,

diese Stunde, die ich nütze;

die ich hoff, ist die für mich?

Jeder Tag, ist er vergebens,

ist im Buche meines Lebens

Nichts, ein unbeschriebnes Blatt.

Wohl denn! Morgen so wie heute

steh’ darin auf jeder Seite

von mir eine gute Tat!'

Danke, lieber Christian Felix Weiße. Und fröhliche Weihnachten!
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